Nicht meine Schuld

Das Frühstücksbuffet ist zweigeteilt. Das Brot und die warmen Speisen haben einen eigenen Raum auf der anderen Seite der Stube. Das findet man nicht von allein. Der Frühstücksraum ist ebenerdig, durch die großen Fenster schaut man in den Garten. Die Abstände zwischen den Tischen sind gerade groß genug, dass man ohne Berührung aneinander vorbei kommt solange niemand eine unvorhergesehene Bewegung macht. Am Tisch neben mir platziert sich eine Familie mit der Anzahl Kinder mit der man gerade noch ins Hotel geht. Die Mutter spricht Spanisch mit ihrem Sohn, der Vater spricht Englisch mit dem Tisch, über Schuldentilgung wenn ich mich nicht täusche. Der Junge isst am Schnellsten. Er will so dringend los, dass ich ihn am Tisch gar nicht wahrnehme bis er seinen Vater fragt, ob er aufstehen darf, wieder in einer anderen Sprache. Holländisch glaube ich. Eine Sprache, die die Mutter nicht spricht. Darum übersetzt er, nachdem der Junge außer Hörweite ist. Sein Tonfall ist seltsam. Er spricht mit seiner Frau als wäre sie allerhöchstens eine gute Bekannte und er spricht mit ihr, als wäre sein Sohn auch nur ein Bekannter von ihr. Während er über die allgemeine Familiendynamik spricht als ginge es um eine Familie aus dem Freundeskreis taucht der Junge im Garten auf. Er hat seine Skischuhe schon angezogen und rennt damit unbeholfen aber begeistert über den Rasen. Im Rennen bückt er sich und schiebt seine Hand über das Gras, dass fast ganz weiß ist. Er kennt den Unterschied zwischen Schnee und Frost noch nicht. Neben mir verliert der Vater an Schwung, es scheint ihm an Zustimmung zu fehlen, der Junge schüttelt enttäuscht seinen Handschuh aus und dann ist er weg.

Er ist einfach nicht mehr da.

Seine Fußspuren sind deutlich zu sehen, aber er ist weg.

Ich schaue mich vorsichtig im Frühstücksraum um, suche nach jemandem, der es auch gesehen haben könnte. Niemand schaut zum Fenster, niemand schaut überhaupt vom Teller hoch. Ich schlucke, mir war auf einmal saurer Speichel im Mund zusammen gelaufen. Irgendwo unter meinem Kehlkopf bleibt die Ladung hängen um langsam wieder nach oben zu drängen.

Ich warte erst mal. Vielleicht taucht er wieder auf. Vielleicht hat doch jemand anders auch hin geschaut und sagt gleich was.

Ich trau mich aber jetzt nicht mehr, weg zu schauen, von der Stelle, wo er verschwunden ist. Aus dem Augenwinkel behalte ich seine Familie im Blick. Ich darf sie nicht gehen lassen, ohne was zu sagen. Im Kopf führe ich das Gespräch schon. In verschiedenen Ausführungen, damit mich mein Englisch nachher nicht im Stich lässt.

Der Kellner steht am Tisch, weist auf mein halb gegessenes Brötchen und fragt ob er abräumen darf. Ich kann nur nicken, dem Fenster zu nicken, dabei finde ich Leute ganz schlimm, die nicht mal in die ungefähre Richtung des Servicepersonals schauen, wenn sie mit ihnen interagieren.

Er räumt bei mir ab und dann räumt er am Nebentisch ab. Der Vater legt seine Hand auf sein Handy, bereit es einzustecken.

Seiner Tochter gibt er eine Anweisung. Wahrscheinlich soll sie ihren Bruder holen gehen.

Der ist immer noch weg. Der Garten ist leer.

Ich sollte etwas sagen.

Hinterm Kellner schiebt sie sich ganz nah an meinem Tisch vorbei in Richtung Ausgang.

Wenn ich jetzt nichts sage, dann muss ich sie gleich dabei beobachten wie sie im Garten nach ihm sucht, nach ihm ruft und dann ratlos zurück kommt um schließlich von ihrem Vater dafür verantwortlich gemacht zu werden, dass der Junge nicht da ist.

Das gesamte vorhandene Blut rauscht gewaltsam aus meinem Kopf in Richtung Boden, mein Sichtfeld wird zu einem kleinen Kreis.

„Let go of me!“

Ich habe die Tochter am Arm gepackt, habe nach ihr gegriffen wie nach einem Rettungsring.

Widerstrebend löse ich meinen Blick von der Stelle an der ihr Bruder verschwunden ist. Ich kann sie nicht los lassen.

„Papa!“

Der Vater steht auf. Er wirkt unberührt.

„What`s wrong with you?“, sagt er, seine Hand liegt auf meinem Arm, er drückt noch nicht zu, die Drohung liegt in der Luft, explizit genug um endlich meine Autopiloten einzuschalten.

„He`s gone.“, sage ich und zeige aus dem Fenster in den leeren Garten. Alle Blicke folgen meinem Finger, jeder im Frühstücksraum schaut jetzt aus dem Fenster. Manche stehen sogar auf, weil ihnen eine Säule im Weg steht.

Der Vater fragt nicht nach, er sieht die Fußspuren.

„Was soll das heißen?“, fragt irgendjemand anders, ganz empört und höchst involviert. Ich halte immer noch den Arm des Mädchens. Mein Griff hat sich gelockert, aber sie hat sich noch nicht befreit.

Einer ist voraus gegangen, in den Garten, hält nicht genug Abstand von den Fußspuren. Ich rutsche einen Stuhl weiter, damit die Schwester sich neben mich setzen kann. Ihr Vater hat sich am Familientisch neben seine Frau gesetzt. Wir sitzen in einer Reihe, mit Blick aus dem Fenster. Um uns herum herrscht Unruhe, Gemurmel hebt an und ebbt ab. Die Rezeptionistin ist auch draußen jetzt, nur im Dirndl. Ein Mann mit Halbglatze steht etwas abseits und telefoniert.

Das Mädchen hat ihren Arm aus meinem Griff gelöst um ihre Hand in meine zu schieben. Ihre Haut ist heiß und schwitzig und sie hält mich krampfhaft fest.

Der Frühstücksraum leert sich jetzt, das Personal hat schon längst angefangen auf zu räumen. Wir sind ihnen im Weg, aber sie trauen sich nicht uns zum Gehen auf zu fordern. Zehn oder fünfzehn Minuten regen wir uns nicht, dann wendet sich der Vater an uns. „He'll be in the room. Let's go.“

Das Mädchen gibt meine Hand frei. Ich bin erlöst.

 

Zu dritt gehen sie zum Aufzug.